19.03.2023
Blauer Versuch 2017
Mit der folgenden Geschichte lud der Maler Rocco Pagel ein, blaue Kleidung in den Dom zu bringen: „Mit blauen Kleidungsstücken werden im Dom Formen angeordnet. In den Bänken entstehen so Zeichen dafür, dass diese Plätze reserviert waren und sie es ja auch noch sind. Die Stoffstücke wurden in aller Eile von jemandem dort zurückgelassen oder sie wurden mit bedachten Gesten so ausgelegt, dass sie auf diese Weise gemeinsam etwas ganz anderes bilden können.“ Aus der Kirchengemeinde, von Freunden, über Facebookkontakte und Mitarbeiterinnen kamen mehrere hundert Kleidungsstücke zusammen. Sogar aus München kam eine Sendung. In Wahrheit war es der Maler, der in der Nacht vom 26. zum 27. Mai 2017 die blauen Kleidungsstücke mit größter Sorgfalt auf die ca. 400 Sitzplätze bereithaltenden grauen Bänke drapierte. Sie waren nicht einfach über die Lehnen gehängt, sondern folgten einer Bildidee, eng zusammengelegt, in unterschiedlichen Formen, die Kleiderform selten erkennbar, getupft, ähnlich wie in der Malerei der Spätimpressionisten. Da die vielen Bänke im Dom blockartig stehen, waren ein guter „Rahmen“ und eine Art „Gitternetzlinien“ für die Bildstruktur grundgelegt. So ergab sich auf dieser Ebene ein besonderes Bild auf der sonst massiv wirkenden Bankaufstellung.
Gleichzeitig wirkte diese Gestaltung aber auch eine Veränderung im Raum, die ihn sofort öffnete, wenn man ihn betrat. Die Kleidungsstücke weckten Aufmerksamkeit. Sie wurden das Vordergründige, sie lenkten ab von den Steinen. Sie ließen den Raum lebendiger erscheinen, belebter. Sie stellten die Frage, wer diese Kleidungsstücke wohl hinterlassen haben könnte. Dass sie so sorgsam gelegt waren, ließ das Geheimnis ihrer Herkunft noch stärker hervortreten.
Eine Frau hatte sich beim Betreten der Kirche eines der Kleidungsstücke angezogen. Das war so nicht gedacht und durchbrach die ursprüngliche Projektidee. Ich war ein bißchen empört. Es war meine Weste und ich suchte nach einer Möglichkeit, sie anzusprechen, ohne vorwurfsvoll zu klingen. Schließlich kamen wir tatsächlich ins Gespräch. Sie erzählte, dass sie ihre Jacke vergessen hatte und sich beim Betreten der Kirche sehr darüber gefreut hat, auf dieses doch sehr basale Bedürfnis hier eine Antwort zu finden. Das würde sie in Kirchenräumen sonst nicht erleben.
Die blauen Kleidungsstücke weckten auch Farbassoziationen wie einen Himmelsspiegel, das Meer, auch Assonanzen an Ertrinkende im Mittelmeer, an Kleider, die keinen Eigentümer mehr haben. Dass auch dies Reminiszenzen hier Raum haben, wurde diskutiert. Die Korrespondenz des Gewölbes als bergendes Bild kam ins Gespräch. Das Blau barg in sich mannigfaltige Nuancen – von der Arbeitskleidung bis zum Mantel der Himmelskönigin. Wir haben darüber gesprochen, welchen Eindruck unbesetzte Bänke in Kirchen erwecken, und wie es wirkt, wenn sie belegt sind.
Am Abend des Tages war das Gemälde in Auflösung begriffen. Die Kleider waren zum Teil angezogen oder aufgenommen und an anderer Stelle einfach wieder abgehängt worden. Das war schmerzlich. Wir hatten morgens keine Fotos gemacht. Das Kunstwerk des Morgens war für immer verloren. Nur in uns war es. Aber auch dies empfanden wir als wichtigen Erkenntnisprozess für die „profetischen Räume“. Ein offener Raum ist eben auch ein genutzter und Spuren zeitigender Raum.