19.03.2023
Der Wanderer 2019

Der Wanderer / 2019-2021
Im Jahr 2019 jährte sich zum 80. Mal das Gründungsdatum des heute, völlig zu Recht, kaum mehr bekannten Eisenacher „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Spuren dieses Instituts finden sich bis heute in liebgewordenen kirchlichen Gewohnheiten, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt. Dies im Kontext einer Gesellschaft, die wachsenden Antisemitismus zu verzeichnen hat. Der Beirat für christlich-jüdischen Dialog in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) hat – um dies zur Sprache zu bringen – ein Kunstprojekt „Mit Judenhass vergiftet. Versuch einer Entgiftung von Pfarrbibliotheken, Liedern und Köpfen“ ausgelobt.

Von den fünf eingereichten Projektideen wurde das der Künstlerin Michal Fuchs ausgewählt. Daraus entstand das Kunstprojekt „Der Wanderer“, das erstmalig im September 2019 in der Nikolaikirche in Eisenach ausgestellt wurde. 2020 und 2021 wurde es an drei weiteren Orten gezeigt. 

Die Installation besteht aus vier im Raum verteilten weißen Stelen, die auf Augenhöhe einen Ausschnitt freigeben, in den je ein Glasbecken eingebaut ist. In diesem mit Wasser gefüllten Gefäß sind die Wurzeln einer Pflanze zu sehen, während sich die Pflanze selbst in einer Kiste 
verbirgt. Entgegen der Konvention liegt das Augenmerk nicht auf dem grünen Gewächs, sondern auf den Wurzeln, die nicht sicher in der Erde eingepflanzt sind, sondern lose im Wasser hängen. Im Verlauf der Ausstellung wachsen die Wurzeln im Wasser und verändern über mehrere Monate ihre Gestalt. Der Name der Pflanze ist auf Hebräisch und Englisch „The Wandering Jew“ (deutsch: Mexikanische Drei-master-Blume). Der Name der Pflanze leitet sich wohl von der Figur des Wandernden Juden ab: Sie ist ein Überlebenskünstler, der fast überall wächst, anpassungsfähig und in der Lage, an unterschiedlichen Orten immer wieder Wurzeln zu schlagen. Mit dem umstrittenen 
Namen (genauso wie mit dem Mythos) verbindet sich sowohl Positives als auch Negatives. 

“Fuchs befasst sich als Israelin in Deutschland mit Vorstellungen von Zugehörigkeit, die von den Stelen auf ganz praktische Art gestellt werden: Kann ein Lebewesen Entwurzelung überleben? Wie lange kann es ohne Erde unbeschadet existieren? Wie entwickelt sich das Lebewesen in der 
Schwebe, ohne Boden? Übertragend könnte man weiterfragen, ob das Sinnbild von Entwurzelung auf die Erfahrung von Menschen angewandt werden kann? Trägt die Künstlerin ihre israelischen Wurzeln mit sich oder setzt sie neue Wurzeln in Deutschland an? Hat sie jüdische Wurzeln und 
gibt es so etwas überhaupt? Ist die Frage nach Wurzeln noch zeitgemäß in einer Welt, die vorgibt, global, international und kosmopolitisch zu sein? Ist die Allegorie der Verwurzelung und der damit konnotierten Blut-und-Boden-Mentalität nicht ebenso gefährlich und rückständig wie die Sage des 
„Ewigen Juden“? Und ist die Darstellung eines Fremden, der seine Entwurzelung mit sich trägt, eine Veranschaulichung eben dieser antisemitischen Fiktion eines „wurzellosen Parasiten”?” / aus “Die Präsenz des Unbequemen” von Dr. Shelley Harten, Jüdisches Museum Berlin.

Kirchlicherseits war die Eröffnung des Ausstellungsprojekts in Eisenach in die Tagung zum Entjudungsinstitut eingebettet und entsprechend kontextualisiert. Eindrückliche Gespräche, die die Komplexität des Projekts offenbar machten, entstanden. Ehrenamtliche sorgten für die Öffnung der Kirche.

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